(Weiter)-Entwicklung mit Fragezeichen

Zucker – wohin das Auge reicht
Uns Konsumenten stehen viele Sorten zur Auswahl. Der in ganz Europa angebaute Rübenzucker hat zwar jede Menge Konkurrenz, ist aber erschwinglich. Dass Zucker Mangelware war, liegt bei uns schon einige Jahrzehnte zurück. Anfang des 18. Jahrhunderts war Zucker sogar ein Luxusgut. Der Grund: Bis zur Entdeckung in der Runkel- bzw. Futter-Rübe durch den deutschen Chemiker Andreas Sigismund Marggraf im Jahr 1747 kannte man nur Zucker aus Zuckerrohr. Der Rohrzucker stammte aus Kolonien. In Berlin wurde er zu der Zeit nur in wenigen Apotheken verkauft. Große Teile der Bevölkerung hatten somit keinen Zugang dazu. Mit der Entdeckung des Zuckers in einer heimischen Pflanze stürzte das Monopol des Kolonialzuckers. Zucker avancierte vom Luxusartikel zum Volksnahrungsmittel.
Rübenzucker – ein „sozialer“ Gewinn für viele
Mit seiner Entdeckung legte Marggraf den Grundstein für die Zuckerindustrie. Das hatte weitreichende, vor allem sozioökonomische Folgen: Entlang der gesamten Wertschöpfungskette entstanden etwa neue Arbeitsplätze. Auf dem Gebiet der österreichisch-ungarischen Monarchie öffnete 1844 in Dürnkrut die erste Zuckerfabrik. Das läutete hierzulande den Beginn der industriellen Verarbeitung von Zuckerrüben ein. Deren Zuckergehalt ließ sich durch Züchtung steigern und der moderne Pflanzenschutz trägt zu guten Erträgen bei. Heute zählt die Zuckerrübe unbestritten zu den zentralen Kulturpflanzen Europas. Eine Errungenschaft, die oft für selbstverständlich genommen wird.
Doch was passiert, wenn man Zuckerrüben am Feld sich selbst überlässt? Welche Folgen der völlige Verzicht auf Pflanzenschutzmaßnahmen für die Zuckerrübe hat, zeigte 2014 ein Projekt der IndustrieGruppe Pflanzenschutz gemeinsam mit der egz (erzeugergemeinschaft zistersdorf), das 2015 mit dem Jungbauernbund fortgesetzt und 2016 unter dem Namen „schauFELDER“ wiederholt wurde. Auf einer der acht Kleinparzellen wurden Zuckerrüben angebaut. Ohne Pflanzenschutzmaßnahmen wird die Pflanze durch die Nährstoffkonkurrenz verdrängt und das Feld verwildert – in diesem Versuch ergab sich ein Ertragsverlust von 86 Prozent. Dort, wo im Sinne des „integrierten Pflanzenschutzes“ gearbeitet wurde, waren die Pflanzen kräftig, gesund und auch die Qualität der Rüben war deutlich besser: Hier passt alles für Pflanze, Landwirt und Konsument.

Neue Studie widmet sich den Folgen
Der – freiwillige – Verzicht auf modernen Pflanzenschutz bleibt somit nicht ohne Folgen. Die Zuckerrübe wird oft als Beispiel herangezogen, weil die Auswirkungen besonders deutlich sind. Natürlich könnte man die Unkräuter aus den Rübenfeldern auch händisch entfernen. Dafür wäre es aber rein rechnerisch notwendig, dass jeder Österreich eine Stunde pro Jahr am Rübenfeld mit Unkrautjäten verbringt – ein unmögliches Unterfangen.
Für den Fall, dass auf einen Schlag weitere 75 Wirkstoffe in der EU verboten werden, sind die Folgen für den Einzelnen, genauso wie für Entscheidungsträger und die Gesellschaft schwer vorhersagbar. An die Frage, welche sozioökonomischen Konsequenzen dieser Schritt zur Folge hätte, wagte sich nun eine großangelegte Studie (Impact Assessment). Konkret heißt das: Was bedeutet es für Umwelt, Ressourcen, Arbeitsmarkt, Wirtschaftlichkeit, Erträge, Produktion und Preisgestaltung, wenn diese Wirkstoffe wegfallen?
Initiiert und finanziert wurde die Studie „Cumulative impact of hazard-based legislation on Crop Protection Products in Europe“ durch den Interessenverband der europäischen Pflanzenschutzmittelindustrie (ECPA). Durchgeführt wurde sie vom niederländischen Beratungsunternehmen „Steward Redqueen“, das sich auf die Analyse von Auswirkungen im Sinne der Nachhaltigkeit spezialisiert hat. Die Ergebnisse stützen sich auf Daten von Pflanzensachverständigen und -experten, Landwirten, Landwirtvereinigungen und Interessenvertretungen, Forschungs- und Technologieinstituten und Statistikämtern aus ganz Europa. Österreich war eines der neun untersuchten EU-Mitgliedsländer und steuerte ebenfalls Zahlen bei, die stets auf einem Fünf-Jahres-Durchschnitt von Produktion und Kosten (2009-2013) basieren. Darüber hinaus begutachtete „Rothamsted Research“, das größte und älteste Agrarforschungsinstitut Großbritanniens, die Studie.

Umwelt, Arbeitsmarkt & Wirtschaftlichkeit
Sieben Hauptkulturpflanzen, zu denen Kartoffeln, Gerste, Weizen, Raps, Mais und Trauben sowie die Zuckerrübe zählen, und 24 spezielle Kulturen wurden untersucht. Insgesamt deckt die Studie 49 Prozent des Ernteertragswerts vom gesamten EU-Markt ab. Das Expertenteam analysierte, welche Effekte der Verlust von 75 Pflanzenschutzmittel-Wirkstoffen durch eine Umstellung vom risiko- auf den gefahrenbasierten Ansatz bei der Zulassung hätte. Beim risikobasierten Ansatz wird die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schaden eintreten kann, berücksichtigt. Dosis, Konzentration und Exposition spielen eine zentrale Rolle. Daraus wird das Risiko abgeleitet, das hoch, gering oder vernachlässigbar sein kann. Gefahr beschreibt hingegen nur den möglichen Schaden, ohne Risiko. Kommt es zu einer Änderung in diese Richtung, könnte das für 75 Wirkstoffe gleichzeitig das Aus bedeuten.
Die Folgen dieser Entscheidung reichen weit über die direkt Betroffenen, wie Landwirte und die chemische Industrie, hinaus. In der Studie zeigte sich beispielsweise, dass der Bodenverbrauch steigt. Die europäische Landwirtschaft bräuchte zusätzliche Anbauflächen in der Größe Österreichs plus Südtirol. In Zahlen wären das mehr als 90.000 Quadratkilometer. Um dieselbe bzw. eine höhere Ertragsmenge zu erreichen, müssten alternative Substanzen häufiger angewandt werden. Beides wirkt sich negativ auf die Umwelt aus und führt darüber hinaus zu einem höheren CO2-Ausstoß. Auf diesen Aspekt ging auch Alexander Müller von TMG – Töpfer, Müller, Gaßner GmbH, einem Think Tank for Sustainability beim letzten „IGP Dialog“ im September ein. Etliche Experten diskutierten dort das Thema „Who feeds the world? Österreich zwischen regionaler Selbstversorgung und globalem Supermarkt“.

Teure Produktion
Global betrachtet könnte ein Anstieg der CO2-Emissionen, etwa in der Landwirtschaft oder auch durch Verstädterung und Lebensmittelabfälle, das Erreichen der CO2-Reduktionsziele der EU gefährden. Darüber hinaus kamen die Studienautoren zu dem Ergebnis, dass durch das Verbot und Ernterückgänge die Produktionskosten in der gesamten EU um zwei Milliarden Euro steigen würden. Für Österreich wären es um 10 Prozent mehr pro Hektar und bei der Zuckerrübe würden sich die Kosten sogar verdoppeln. Die Pflanze ist auch in punkto Ertragsverluste und Wirtschaftlichkeit einsamer Spitzenreiter. So würden die Erträge um 35 Prozent sinken und die Experten prognostizieren bei der Zuckerrübe den höchsten zu erwartenden Wirtschaftlichkeitsverlust von 100 Prozent.
Bei niedrigeren Erträgen und steigenden Kosten könnte so mancher Landwirt um seine Existenz bangen und den Betrieb aufgeben. Damit stehen Arbeitsplätze auf der Kippe. In Österreich wären von 61.000 Arbeitsplätzen knapp die Hälfte gefährdet. Weniger Landwirte heißt aber auch, dass die regionale Selbstversorgung leidet – hier schließt sich der Kreis zur Ernährungssicherheit.
Ausgang ungewiss
Obwohl angesichts voller Regale und gut gefüllter Kühlschränke beim Großteil der heimischen Haushalte von Mangel selten die Rede ist, ist unsere Ernährungssicherheit hauptsächlich vom Vermögen der Landwirte abhängig, ausreichend und in guter Qualität zu produzieren. Beides ist derzeit gewährleistet, obwohl auch die heimische Landwirtschaft mit Problemen wie den Folgen des Klimawandels oder Preisschwankungen kämpft. Trotzdem wird versucht, mit den steigenden Auflagen, auch seitens des Handels, Schritt zu halten. Was für Hermann Schultes von der Landwirtschaftskammer Österreich irgendwann aber auch an seine Grenzen stoßen wird, vor allem, wenn sich der Mehraufwand nicht in den Preisen widerspiegelt. Hochqualitative und leistbare Produkte ganzjährig zur Verfügung zu haben, ist ein Luxus. Fallen viele Wirkstoffe weg, sind die Konsequenzen weitreichend. Ob Zucker oder andere Lebensmittel dann wieder zum Luxusgut werden könnten, steht allerdings in den Sternen.